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aktualisiert: 21.05.2010

Publikationsdauer: bis Ende 2010

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Christoph Schwandt: Stolze Vorurteile
Leoš Janáček und sein virtuelles Russland

Geschrieben für das Programmheft zu "Kát'a Kabanová" der Staatsoper Stuttgart - Premiere 09.05.2010

Wenn man vor 150 Jahren von der hochgelegenen Burgruine zu Hukvaldy, dem Geburtsort Leoš Janáčeks, nach Nordosten schaute, lag am Horizont schon das Zarenreich, denn damals waren es tatsächlich keine hundert Kilometer bis zur russischen Grenze.
„Das, was dieses Reich entstehen ließ und seine Kraft erhält, muß fest sein wie Eisen und kernig wie Eichenholz. Die Ideen und den Wellenschlag seines Sieges müßten wir doch auch kennen (1), so schwärmte Leoš Janáček vom großen Russland, als er es zum ersten Mal selbst besuchte. Das russische Imperium beeindruckte ihn als einen Angehörigen einer großen slawischen Minderheit im deutsch-dominierten Brünn. Auf dem Weg nach Sankt Petersburg hatte er Station in Warschau gemacht und von dort am 19. Juli 1896 nachhause geschrieben: „Ein slawischer Staat in voller Kraft! Welche Sklaven sind denn wir! ... Die Menschen wie Tannen gewachsen, es ist eine Freude sie anzuschauen!“ (2). Eine solche panslawistische Verzückung wurde damals wohl nur von den wenigsten Mitgliedern der fremdbeherrschten polnischen Nation geteilt. Durch teilweise bizarre Widersprüche und nationalistische Exzesse verstrickte sich Janáček nicht selten im hochdifferenzierten ethnischen Kosmos seiner Lebenswelt.
Sicherlich hatte die Ruine zu den Abenteuerspielplätzen des kleinen Leoš gehört, der seine ersten elf Lebensjahre in Hukvaldy verbrachte. Die Burg war im Mittelalter auf Geheiß des böhmischen Königs von einem deutschen Grafen gebaut worden. Mitte des 19. Jahrhunderts lag Hukvaldy in der Markgrafschaft Mähren, die genauso wie Böhmen österreichisches Kronland war.


Wo Janáček zuhause war, stießen die Einzugsgebiete der Herrscher von Moskau, Wien und Berlin aneinander. Unabhängig von den politischen Grenzen lebten in dieser Region Menschen, die die slawischen Sprachen Polnisch und Tschechisch sprachen, neben deutschen Muttersprachlern in Preußen, in den Kronländern und an der Westgrenze des Zarenreichs. Die Slowakei gehörte damals zu Ungarn, welches schon dreißig Kilometer südöstlich von Hukvaldy begann, sodass dem jungen Leoš Janáček nahe der eigenen Haustür auch Slowaken mit deren eigener slawischen Sprache begegneten. Zu diesem ohnehin großen Sprachreichtum der Gegend kamen weitere wesentliche Dialekte noch hinzu. In der Landschaft von Janáčeks Heimat fühlten sich zudem viele in erster Linie als Schlesier, was es nicht einfacher machte, hier sprachliche und nationale Identität zu entwickeln. Schlesien betreffend verstieg sich Janáček Jahre später zu einer abstrusen Reklamation: „Das ganze Leben des schlesischen Volkes, durchdrungen von der Grundlage der tschechischen Bildung, ist eigentlich unser.“ Die polnische Intelligenz sowie preußische Touristen fielen in diesen Landstrich wie Bienenschwärme ein und verdrängten die Tschechen, schrieb er 1907 in den Lidové noviny nach einem Besuch in Jablunkov. Er bekannte stolz, dass er den ungarischen Bahnbeamten, die dort auf der Strecke nach Košice/Kaschau Dienst taten, eine Antwort auf Tschechisch abgezwungen habe. (3)
Hukvaldy gehört heute zum „mährisch-schlesischen Landkreis“ von Frýdek-Místek, zwei Städten die einmal durch eine Kronlands-Grenze getrennt waren. Nicht weit entfernt liegen die mährischen Städte (rumänisch-)Walachisch Meseritz und Ungarisch Hradisch, was auf einen noch weit komplizierteren ethnischen Hintergrund verweist ... Da kommt man gern ins Träumen vom einigen großen Slawenvolk.
In Brünn/Brno, wo der junge Janáček Sängerknabe und Klosterschüler wurde, war alles übersichtlicher. Hier gab es eine Mehrheit von Bürgern, die deutsche Mähren waren, sowie mährische Österreicher mit tschechischer Muttersprache, die zunehmend zahlreicher wurden. Doch auch bei Gründung der Tschechoslowakischen Republik ein halbes Jahrhundert später waren sie – anders als im darum beneideten Prag – in Brno noch immer nicht in der Überzahl. Der heranwachsende Leoš Janáček entwickelte in diesem Umfeld nun seine slawische Identität und nannte sich mit der russischen Variante seines Vornamens „Lev Janáček“. Er sympathisiert mit dem Sokol (Falke), einer tschechisch-nationalen Turnerbewegung, deren eingetragenes Mitglied er ab 1876 ist, und trägt symbolisch-slawische Kleidungsstücke. In dieser Bewegung, zu dem in k.u.k.-Landen auch slowenische, slowakische, kroatische und galizische Formationen sowie Organisationen in Polen und Serbien gehörten, gab es eine starke panslawische Tendenz mit dem großen Russland als ideeller Projektionsfläche.
Seinem Onkel, einem Landpfarrer, der nach dem frühen Tod des Vaters die Vormundschaft des Knaben übernahm, schreibt „Lev Janáček“ stolz Briefe auf Deutsch, um zu zeigen, dass er ein guter Schüler und auf dem Wege zur Zweisprachigkeit ist, was durchaus beruflichen Erfolg verheißt. Eines Tages jedoch schickt er ein tschechisch verfasstes, aggressiv antideutsches Gedicht – „Den Mördern!“ –, indem es heißt: „Name und Sprache haben gelitten / im Gemenge der Zeit: / Aber aus den Gräbern lacht / den Slawen die Hoffnung wieder. (4)


1869 ist der fünfzehnjährige Janáček aktiv musizierend dabei, das Millennium der "Slawenapostel“ Kyrillos und Methodios zu begehen, deren Namen für ein ebenso kurzes wie lange zurückliegendes Vierteljahrhundert nicht-römisch-lateinischer Katholizität im untergegangenen Großmährischen Reich standen. Die Besinnung auf Slawisches und Orthodoxes galt als tschechisch-nationale Opposition zu Wien und Rom.
Als Chorleiter von Formationen wie Svatopluk(5) oder Zora (6) war Leoš Janáček um 1873 in einem Milieu tätig, wo sich – ähnlich wie zuvor in deutschen Männergesangs-vereinen – hinter der musikalischen Kulisse Nationales formierte. Er begann, sich nun auch mit der russischen Sprache und Literatur zu beschäftigen. In seiner Zeit als Student an der Prager Orgelschule 1874/75 waren seine Fertigkeiten erst soweit gediehen, dass er mit kyrillischen Buchstaben geheime tschechische Tagebuchworte festhielt.(7) Erst um einiges später reichte es zur Konversation und zum Lesen russischer Romane und Theaterstücke in Originalsprache, die der Komponist für seine Arbeit nutzbar machte.
1876 – im selben Jahr, in dem der Zar den Ukrainern verbot, Bücher in ihrer notabene slawischen Sprache zu drucken – schrieb Leoš Janáček sein erstes Orchesterwerk: Das Melodram Smrt (Tod) in Russisch auf ein Gedicht von Michail J. Lermontow über den Duelltod Alexander Puschkins.
Janáčeks von Rückschlägen gekennzeichnete langsame Entwicklung zum Opernkomponisten verlief in zeit-untypischer Weise autonom. Bizets Carmen und Verdis Opern (mit Ausnahme des Trovatore) lernte er spät kennen. Die Werke seiner jüngeren und lange vor ihm erfolgreichen Kollegen Giacomo Puccini und Richard Strauss nahm er erst zur Kenntnis, als er seinen eigenen Weg schon gefunden hatte. Die beiden großen Opern Tschaikowskis kannte er zwar (8), bei aller Russophilie war sein Interesse am Werk russischer Komponisten jedoch begrenzt. 1888 erlebte er in Prag ein großes Tschaikowski-Konzert mit mehreren Hauptwerken in Anwesenheit des Komponisten. Janáček war jedoch enttäuscht, dass der bekannteste lebende russische Komponist nicht in einem dezidiert slawischen Tonfall schrieb. Den gleichfalls westlich orientierten Anton Rubinstein bewunderte Janáček – wohl auch als Klaviervirtuosen – so sehr, dass er bei ihm hatte studieren wollen. Modest Mussorgski jedoch, dessen unmittelbare Sprachvertonung, dessen abrupte Wechsel des musikalischen Duktus und dessen fragmentarische Form ihm so nahe sind – ihn und sein Werk kannte Janáček zu dieser Zeit nicht einmal!


Nicht erst im späten 20. Jahrhundert wurde das Russland-Klischee durch reisende Kosaken-Chöre geprägt. Auch in Brünn applaudierte man im Mai 1890 einem aufwendigen Volksmusik-Event der Truppe von Dimitri Slaviansky d’Agreneff, die in historischer Kostümierung weltliche und geistliche russische Gesänge darbot. Auch Janáček, als Zeitungskritiker (9) im Saal des Brünner tschechischen Kulturhauses, war begeistert. Gerade zu jener Zeit, da man sich in Österreich-Ungarn nach wie vor redlich um einen Vielvölkerstaat bemühte, kam es zwischen den als Besatzer angesehenen Russen und den polnischen Untertanen des Zaren zu grausam-blutigen Auseinandersetzungen. František Josef, der von den Eltern kaisertreu getaufte jüngere Bruder Janáčeks, lebte da schon mit einer Polin verheiratet als Ingenieur im deutsch-schlesischen Gleiwitz. Ende 1895 ging er als Fabrikdirektor nach Sankt Petersburg und konnte so eine ersehnte Russlandreise seines Bruders unterstützen. So sah Leoš es ihm auch nach, dass er ihm anfangs auf Deutsch schrieb und im Tschechischen manchen Fehler machte. Am 18. Juli 1896 stieg Leoš Janáček in Studénka, der Hukvaldy nächstgelegenen Bahnstation, in den Zug. Nach etwas mehr als 48 Stunden war er in Sankt Petersburg angekommen. Ein wenig schneller wäre es gegangen, wenn er die kürzere Strecke genommen hätte, die durch das Deutsche Reich führte. Janáček wollte jedoch nur einmal seinen Pass vorzeigen, sodass er die Nebenstrecke über Nordostgalizien nahm, wo man bei Granica(10) unmittelbar von Österreich-Ungarn ins Zarenreich und via Warschau ins eigentliche Russland gelangte.


Janáčeks Reise in das Reich Nikolaus II. scheint eine Fahrt in ein soziales Musterland gewesen zu sein. Angesichts eines starken, um einen Park mit Spielplatz gezogenen Eisenzauns bemerkt er: „Wie selten ist doch eine solche Sorge um die Sicherheit von Arbeiterkindern!“(11) „Die Sauberkeit ist musterhaft“, findet er, da es in der großen Stadt viele Hydranten zur Straßenreinigung und in den Gasthäusern frisches Wasser gibt. Am Hafen beobachtet er, wie „fünf stattliche Kriegsdampfer gebaut“ werden. Bei einer orthodoxen Totenmesse bewundert er die ruhige Kraft des bisweilen auch leisen Gesangs und disqualifiziert den „Lärm der deutschen Mixturen ... unserer Orgeln“ als „gottverlassen“. Und er lernt die russischen Vorläufer der Kaufhallen und Supermärkte kennen: „Die Dienstmädchen müssen nicht von Laden zu Laden laufen, ... alles finden sie in einem einzigen Laden, beim Fleischer.“
Als er wieder zuhause war, dauerte es nicht lange, bis aus der Brünner Lesegesellschaft, der er angehörte, ein „Russischer Zirkel“ hervorging. Dieser Zirkel richtete auch öffentliche Veranstaltungen aus, so 1899 zu Alexander Puschkins hundertstem Geburtstag: Janáček dirigierte unter anderem Alexander Glasunows opus 26, den Slawischen Festtag; seine 16jährige Tochter Olga, die mittlerweile eifrig Russisch lernte, rezitierte Puschkins makaberdüsteres Gedicht Der Ertrunkene. Für die Brünner Tschechen wurde die russische Kultur zur Projektionsfläche. Freilich, im Vergleich mit der Zarenherrschaft unter der k.u.k.-Obrigkeit ließ es sich besser leben: Bei den Pariser Olympischen Sommerspielen des Jahres 1900 war die Doppelmonarchie nicht nur mit einer österreichischen und einer ungarischen Mannschaft vertreten, sondern auch mit einer eigenen böhmischen Equipe. Polen und Finnen dagegen erhielten allenfalls die Möglichkeit, unter russischer Flagge teilzunehmen.
Den Sommer 1901 verbrachte František Josef mit seiner Familie in Hukvaldy bei Leoš. Hier wurde Ernst gemacht mit dem Plan, dessen Tochter für einige Zeit nach Sankt Petersburg zu schicken. Olga Janáčková sollte als Sprachlehrerin das Russische zu ihrem Beruf machen. Eine Lehrerinnenlaufbahn im Öffentlichen Dienst kam aus Gesundheitsgründen nicht infrage: ihr in jungen Jahren schon schweres Rheuma war mittlerweile chronisch geworden. Zudem sollte sie fern der Heimat eine von den Eltern missbilligte Liebschaft vergessen. Dass diese Reise auch eine gefährliche Strapaze für die kränkelnde junge Frau darstellte, verdrängte der Vater.
Am 24. März 1902 kam Leoš Janáček mit seiner Tochter in Sankt Petersburg an, pünktlich um 8 Uhr, wie es Olga (auf Russisch!) Onkel František Josef avisiert hatte. Scherzhaft hatte sie hinzugefügt: „wenn wir nicht vorher sterben“.(12) Viel länger als die Eisenbahnfahrt gedauert hatte, blieb der Vater jedoch nicht in Sankt Petersburg. Er musste zuhause wieder Unterricht geben, durch den er nach wie vor seinen Lebensunterhalt bestritt. Bald kamen aus Russland schlechte Nachrichten über gravierende gesundheitliche Probleme Olgas. In einem Sanatorium wurde sie wegen Typhus behandelt. Aufgrund des ihrer Gesundheit abträglichen wechselhaften Petersburger Wetters beschloss Olga selbst die Heimkehr. Beide Eltern reisten nun nach Russland: Mutter Zdenka blieb bei der noch nicht wieder reisefähigen Tochter, der Vater fuhr wieder nachhause. Mitte Juli, nach Schuljahresende, kam er dann Frau und Tochter bis Warschau entgegen, um sie nach Hukvaldy zu begleiten. Dort erkannten die Ärzte bald, dass Olgas rheumatische Herzerkrankung lebensbedrohend war. Janáček arbeitete gerade an Její pastorkyňa (Jenufa) als Olga am 26. Februar 1903 im Brünner Haus starb.
Vierzehn Tage nach der Beerdigung erschienen in der Sonntagsbeilage des Moravská orlice zwei russische Gedichte aus der Feder von Olgas Freundin und Russischlehrerin MariaNikolajewna Vevericová mit tschechischer Übersetzung. Eines über „Lev Grigorjevič (13) Janáčeks“ Trauer, das andere eine Elegie auf die Verstorbene, die Janáček für Tenorsolo,gemischten Chor und Klavier vertonte. (14) Als sich Janáček im folgenden Jahr um die Leitungdes Warschauer Konservatoriums bewarb, wäre er fast Beamter des Zaren geworden. Er reiste zwar nach Warschau, versäumte dann aber das Vorstellungsgespräch. Dass sich das fast ausschließlich polnische Kollegium von der russischen Obrigkeit ausgerechnet einentschechischen Orgelschuldirektor aus Mähren hätte vorsetzen lassen, ist allerdings auch wenig wahrscheinlich.


Im russischen Zirkel liest er bald Gogols Taras Bulba im Original wie auch Tolstois Anna Karenina und erwägt letztere sogar als Opernstoff. Wie die drastische Erzählung Gogols vomstets gewaltbereiten, saufenden und ressentimentgeladenen, väterlich liebenden und deneigenen Sohn doch brutal ermordenden Kosakenführer die mährischen Gemüter affizierte,kann man sich ausmalen: „hier hatte sich ein ganzes Volk erhoben, weil seine Geduld zu Ende war. Es hatte sich erhoben, um Rache zu nehmen für die Verhöhnung seiner Rechte, für die schmähliche Mißachtung seiner völkischen Eigenart, für die Beleidigung des Glaubens seiner Väter und seiner heiligen Bräuche, für die Schändung seiner Kirchen, für die Auferlegung der Union der Orthodoxen Südwestrußlands mit der römischen Kirche, für die Schmach der Herrschaft der Juden auf christlicher Erde“(15).
Von Janáčeks Gattin Zdenka sind zahlreiche antisemitische Ausfälle belegt, die zumeist im eifersüchtigen Zusammenhang mit Kamila Stösslová stehen, der 38 Jahre jüngeren jüdischen Frau, in die Janacek sich 1915 verliebte. Von Janáček selbst ist ein Fauxpas aus dem Sommer 1916 überliefert, als er in einem Brief an seine Frau von einer auf der Parkbank vergessenen und anschließend gestohlenen Geldbörse berichtet: „Irgendeinem Juden, die es hier so viele gibt wie die Giftpilze, hat es gepasst!“(16) Die russische Revolution hielt Janáček, bis ihn jemand aufklärte, für eine jüdische Verschwörung.(17)
Die Zirkel-Lektüre von Lev Tolstois Kreutzersonate führte zu einem programmatischen Klaviertrio. Dieses wurde 1908 bei einem russischen Abend anlässlich von Tolstois 80. Geburtstag in Brünn aufgeführt, ist aber verloren gegangen. Musik und Ehebruch, als literarische Themen enggeführt, mussten Janáček im eigenen autobiografischen Bezug zwangsläufig faszinieren. Jahre später, als Kamila Stösslová in sein Leben getreten war, inspirierte ihn dieselbe Novelle zur Komposition seines 1. Streichquartetts.
Einen Monat nachdem im annektierten Bosnien Erzherzog Franz Ferdinand von serbischen Nationalisten erschossen worden war, hatte Österreich-Ungarn im Juli 1914 dem Königreich Serbien den Krieg erklärt, was dessen Verbündeten Russland auf den Plan rief. Zar und Kaiser waren nun Kriegsgegner. Damit war ein Ende der öffentlichen Aktivitäten des Russischen Zirkels absehbar, der der Feindpropaganda oder Spionage verdächtigt worden wäre. Dies führte zu seiner Streichung aus dem Brünner Vereinsregister. Zu dieser Zeit besann sich Janáček auf seine Gogol-Lektüre und begann mit der Komposition der sinfonischen Dichtung Taras Bulba. Ihre widersprüchliche ideologische Ausrichtung steht im Spannungsfeld von Ressentiment und Bewunderung, von ethnischer Abgrenzung und panslawischer Eintrachtsfantasie.
Heute, nach dem Zerfall der UdSSR sind die Ukraine und Russland wieder zwei verschiedene slawische Nationen. Wir können daher Janáčeks Rhapsodie für Orchester Taras Bulba von ihren im 20. Jahrhundert vorgenommenen Etikettierungen lösen. Gogol, einer der Großen der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, war von ukrainischer Herkunft; und sein Taras Bulba ist ein – natürlich orthodox-gläubiger – Ukrainer des späten 16. Jahrhunderts, der sterbend einen universal-allmächtigen (russischen) Zaren prophezeit. Heute wird Gogols Novelle aber „geradezu als Loblied auf das freie Kosakentum gelesen, das auch Kernstück der großen nationalen Geschichtserzählung der modernen Ukraine ist und somit den Gegensatz zum streng hierarchisch strukturierten Russland betont.“ (18) Mit Taras Bulba fand der 61jährige Komponist zur sinfonischen Großform. Als im Frühjahr 1915 die Partitur fertig war, hatte eine russische Orchesterrhapsodie natürlich keine Aufführungs-chancen (auch wenn niemand auf die Idee gekommen wäre, dass der Komponist mit Gogols Ukrainern die national unselbständigen Tschechen und mit den Polen der Sage die aktuellen Österreicher hätte gemeint haben können ...).
Nicht allzu lang nach der langersehnten Prager Premiere von Její pastorkyňa (Jenufa) drangen 1916 russische Truppen erneut ins österreichische Galizien ein, was einen politischen Schachzug von Berlin und Wien zur Folge hatte: ein unabhängiges, vom Zaren befreites Polen sollte geschaffen werden, sobald die entsprechenden Territorien von „Russisch Polen“ in die Hand der Mittelmächte geraten waren. Taras Bulba geriet unversehens zwischen neue politische Frontlinien und blieb nun erst recht besser unaufgeführt. Mitte des 20. Jahrhunderts, nachdem Janáčeks Heimat zu einem sozialistischen Staat geworden war, hieß es in einem auflagenstarken DDR-Konzertführer: „Janáčeks Verherrlichung russischen Heldentums hatte während des ersten Weltkriegs und dann auch während der Oktoberrevolution einen politisch aufrüttelnden Sinn und wurde auch so verstanden.“(19) Dabei hatte man das Werk erst knapp drei Jahre nach Kriegsende zum ersten (und für lange Zeit letzten) Mal gehört!

Nach dem in Brest-Litowsk geschlossenen Friedensvertrag vom März 1918 zwischen den neuen russischen Herrschern, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich, bei dessen Verhandlungen auch die Ukraine-Frage eine Rolle gespielt hatte, saß Janáček mit Taras Bulba wieder zwischen den Stühlen. Etwas Ähnliches passierte ihm mit dem großen MännerchorČeská legie, den Janáček Mitte November 1918 in der neugegründeten ČSR komponierte:Denn die hier besungenen Soldaten waren als „Tschechische Legion“ dem Zaren zu Dienstengewesen und hatten nach dessen Abdankung an der Westfront gegen die Mittelmächtegekämpft, mussten also im Umkehrschluss als Gegner der nunmehr „siegreichen Sowjetarmee“ gelten.

Die am Karfreitag 1918 abgeschlossene Partitur des Taras Bulba widmete Janáček der noch im gleichen Jahr gegründeten „Tschechoslowakischen Armee“. Erstmals wurde sie im Oktober 1921 in Brünn gespielt. Eine programmatische Erläuterung bekam das Konzertpublikum nicht an die Hand. Erst drei Jahre später, als Václav Talich das Werk in Prag spielte, steuerte der Komponist einen Kommentar (20) bei, in dem unter anderem zu lesen ist, dass Feuer, die das russische Volk bezwingen könnten, auf Erden nicht zu finden sind. Von Polen kein Wort mehr. Weitere zwei Jahre später prophezeit ein neues Programm (21) aus Janáčeks Feder für eine in London geplante Aufführung einen Sieg von Christus und der Nation Taras Bulbas’ über die Polen, die er in England wohl als Nicht-Slawen durchgehen lassen wollte.
Wie auch immer: Der Panslawismus hatte wohl schon damals als Konzept für das 20. Jahrhundert nur mehr geringe Bindungskraft. 1938 spaltete Adolf Hitler die Tschechen und Slowaken erneut für sieben Jahre, bevor sich 1992 die endgültige Trennung vollzog. Auch dem größeren panslawischen Versuch in Jugoslawien war keine lange Dauer beschieden. Das Brünner Theater spielte 1919 Aleksandr Nikolajewitsch Ostrowskis Das Gewitter – ein Stück, das Janáček bereits im Original gelesen hatte – in neuer tschechischer Übersetzung von Vincenc Červinka. Diese Übersetzung richtete er – stark gekürzt – als Libretto seiner neuen Oper Kát’a Kabanová ein. Ostrowskis Gesellschaftskritik richtet sich gegen die traditionellen Strukturen von russischer Familie und Kleinstadt in später Zarenzeit. Die aus dem fiktiven Wolgastädtchen Kalinoff ausbrechenden Figuren Varvára und Kudrjaš fliehen aus einer Welt, die sicher nicht die der Janáčekschen Sehnsüchte ist.


Mit jenem Russland, das nach dem Ersten Weltkrieg den Kern der UdSSR bildete, hatte Janáček nichts im Sinn. Es handelte sich hierbei um ein Staatsgebilde, das den panslawischen Gedanken für eine Zeit erfüllte, auch wenn man in den nicht-russischen Teilstaaten weniger tolerant mit den Anderssprachigen umging als einst Kaiser Franz Joseph I. in Österreich- Ungarn. „Die Hymne der russischen Revolution“ sei „in Bächen menschlichen Blutes geboren“, meinte Janáček 1928 (22).

Die russischen Stoffe seiner Musik und jüdische Mitarbeiter wie sein Übersetzer Max Brod brachten Janáček fünf Jahre nach seinem Tod in Deutschland in Misskredit, später auch in Österreich und in den von den Nazis besetzten Territorien, zu denen auch seine mährische Heimat gehören sollte. Jenseits der russischen und jüdischen Anteile fanden die deutschen Besatzer bei Janáček offenbar dennoch genügend Verwertbares, so dass sie im Protektorat Böhmen und Mähren manchen Erstdruck seiner Werke förderten. Nicht zuletzt setzen sie gern Její pastorkyňa (Jenufa) an, eine Oper, die sich auch daheim im „Reich“ gut im Spielplan hielt(23).
Angesichts von Janáčeks weitgehend unreflektierter Bewunderung Russlands und seiner Kultur fällt die Gleichgültigkeit auf, mit der man gerade dort und in den Nachfolgestaaten der UdSSR seinen Bühnenwerken begegnet. Bei Z mrtvého domu (Aus einem Totenhaus) lässt sich dies noch am leichtesten erklären; denn in der stalinistischen Sowjetunion mochte man natürlich keine GULAG-Oper. Werden aber vor allem Její pastorkyňa (Jenufa) und Kát’a Kabanová außerhalb der Heimat des Komponisten vor allem im deutschsprachigen wie auch im anglo- und frankophonen Raum zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts gezählt, so gab es bis heute in Moskau (von einer Aufführung von Její pastorkyňa (Jenufa) 1958 am Bolschoi-Theater, mit Galina Wischnewskaja in der Titelpartie abgesehen), Sankt Petersburg und Novosibirsk erst eine wenige Janáček-Inszenierungen.

1 „Notizen von einer Ferienreise“ in Lidové noviny vom 8.9.1896, dt. von Jan Gruna in: Leoš Janaček Musik des Lebens, Skizzen, Feuilletons, Studien, hg. von Theodora Strakova, Leipzig 1979, S. 82

2 Leoš Janáček Thema con variazioni - Briefwechsel mit seiner Frau Zdenka und seiner Tochter Olga, dt. von Pamela Zurkirch, ausgewählt von Jakob Knaus, hg. von der Leoš-Janáček-Gesellschaft, Kassel 2009, S. 34

3 Leoš Janáček Feuilletons aus den „Lidové noviny“, hg. von Jan Racek, dt. von Charlotte Mahler, Leipzig 1959,
S. 114ff

4 Dt. von Jakob Knaus in Leoš Janáček - „Intime Briefe“ 1879/80 aus Leipzig und Wien kommentiert und ergänzt von Jakob Knaus, Zürich 1985, Seite 10f

5 ein großmährischer Herrscher des 9. Jahrhunderts

6 südslawisch für Morgenröte

7 vgl. John Tyrrell Janáček: Years of a Life Volume I, S. 96

8 John Tyrrell widmet dessen Pique Dame und ihrem Einfluss auf Janáček ein Unterkapitel seiner großen Biografie. “What Janáček learnt from The Queen of Spades” in: Tyrrell Janáček: Years of a Life Volume I, S. 438

9Moravská orlice vom 11.5.1890

10 polnisch für Grenze

11 siehe Anm. 1

12 vgl. Tyrrell Janáček: Years of a Life Volume I, S. 526

13 Grigorjevič = Sohn des Grigorij; Vevericová russifiziert den Namen von Janáčeks Vater „Jiři“ mit „Grigorij“ und bildet daraus den russischen Vatersnamen.

14 Dieses sehr intime, private Stück kam erst nach dem Tod Janáčeks zur Aufführung.

15 Nikolai Gogol Taras Bulba, dt. von Ruth Fritze-Hanschmann, Berlin/DDR 1963, S. 150f . „Gogol war gar
kein besonders schlimmer Antisemit, sondern ein normales Kind seiner Zeit“, relativiert die Übersetzerin Vera
Bischitzky zum 200. Geburtstag des Dichters: „Über die Deutschen und Franzosen spricht er auch schlecht.“
(Berliner Zeitung vom 1.4.2009)

16 Leoš Janáček Thema con variazioni - Briefwechsel mit seiner Frau Zdenka und seiner Tochter Olga, dt. von
Pamela Zurkirch, ausgewählt von Jakob Knaus, hg. Von der Leoš-Janáček-Gesellschaft, Kassel 2009, S. 213

17 Tyrrell Janáček: Years of a Life Volume II, S. 193

18 Thomas Urban Die verkaufte Seele –Russen und Ukrainer streiten über Nikolai Gogol, Süddeutsche Zeitung
vom 23.4.2009

19 Konzertbuch Orchestermusik G-O hg. von Hansjürgen Schaefer, Leipzig 1973, S. 261

20 vgl. Tyrrell Janáček: Years of a Life Volume II, S. 270

21 ebenda

22 8 Uhr-Abendblatt der Nationalzeitung, Berlin, vom 26. Mai 1928

23 vgl. Markus Krämer „Eine Art von stählerner Romantik“ - Zur Jenůfa-Rezeption im nationalsozialistischen
Deutschland, Programmheft der Oper Köln Spielzeit 2006/07